Zeit zum Erzählen

Gebannt schauen die Vorschulkinder nach vorne: Ein Bär steht dort! Mit wunderschönem Fell, nur oben, auf dem höchsten Hügel des Kopfes, ist ein nackter, kreisrunder Fleck. „Herrje, eine Glatze!“, sagt Violetta Bernhardt, Lehramtsstudentin der Universität Hamburg, die gerade gemeinsam mit ihrem Kommilitonen Khaled Teldja eine Geschichte erzählt und kurz in die Rolle des Bärenvaters geschlüpft ist. Mit Gestik und Mimik, mal laut und mal leise, mit Herz und Verstand erzählen die beiden Studierenden von der Jagd des Bären nach einem Ersatz für sein fehlendes Haar. Die Vorschulkinder lachen herzlich als der Bär eines Tages erwacht und es so eigenartig auf seinem Kopf kribbelt… Bis zum Schluss sind sie enorm aufmerksam. Blick und Haltung der Kinder deuten darauf hin, dass in ihren Köpfen Bilder entstehen. Diese dürfen sie nach dem Erzählen zu Papier bringen und dazu diktieren sie, was ihnen wichtig ist. Praktisch ist, dass heute so viele Erwachsene zu Besuch sind, die schreiben können – da kann man auch mal eine ganz lange Geschichte diktieren!

An der Schule Speckenreye fand am Freitag, den 2. Juni 2017 ein Erzähltag statt, an dem in allen Klassen erzählt wurde. Seit fünf Jahren besuchen Studierende die Schule Speckenreye und erzählen Geschichten, die sie in der Universität geprobt haben. Im Seminar lernen die angehenden Lehrerinnen und Lehrer, welche Bedeutung das Erzählen für sprachliches Lernen hat, welche Aufgaben zum Erzählen sich eignen und vor allem, wie man selbst in der Schule erzählt. Was die Vorschulkinder zum ersten Mal erleben, kennen die Viertklässler schon aus vergangenen Jahren. Sie begrüßen die Studierenden mit großer Vorfreude: „Seid ihr unsere Erzähler?“ Auch die älteren Kinder genießen es, mit den Gedanken in die Märchenwelt zu reisen, zu hören, wie die Schwester ihre sieben Brüder aus dem Glasberg befreit, wie die hochmütige Prinzessin doch noch ihr Herz verliert oder wie ein Bauer gewandt zu lügen verstand. Mit Begeisterung zeichnen sie hinterher die sieben schwarzen Raben, die ihre Schwingen ausbreiten, schlüpfen selbst in die Rolle der Prinzessin oder schreiben einen ganzen Stapel eigene Lügengeschichten. Und obwohl in einer Klasse alle das gleiche Märchen gehört haben, sind die Bilder und Texte ganz unterschiedlich. Die Studierenden sind erstaunt, wie viel die Kinder erinnern, welche Ideen sie haben, wie sie ihre eigenen Gedanken und Geschichten zu Papier bringen. Und sie berichten von Lehrerinnen, die ihnen Freiraum gelassen haben zum Ausprobieren, und von denen man doch viel lernen konnte über den Umgang mit den Kindern. Zwei Studierende fragen am Ende der Stunde, worum es in der Geschichte eigentlich gehe. Die Kinder aus der ersten Klasse, die das Märchen „Der Wolf und die sieben Geißlein“ gehört haben, sind sich einig: „Um Leben und Tod!“

Vielen herzlichen Dank, liebe Schule Speckenreye, dass wir immer wieder zum Erzählen kommen dürfen!

Lis Schüler, Universität Hamburg